Wald, so weit man sehen kann, nichts als Wald. Mittendrin, auf einem sandigen Weg, steht leicht gebeugt Karl Tempel, lindgrünes Hemd, dunkle Hose, starke Brille, und sagt: „Schauen Sie! Sie sehen den Unterschied.“

Links ragen Kiefern schmal und schlank wie Spargel hoch in den Himmel, auf dem dunklen Boden liegen tote Äste. Rechts stehen die Nadelbäume weiter auseinander, dazwischen sprießen junge Birken, Eichen, Haselnuss – frisches Grün in vielen Schattierungen. „Links, das ist eine Plantage“, sagt Tempel. „Rechts wächst Wald. Mein Wald. Den wollen sie mir töten.“

Sie – das ist die Landesregierung Brandenburg. Der Forstbehörde hatte sie erlaubt, das Insektenmittel „Karate Forst flüssig“ einzusetzen, auf einer Fläche der Größe von etwa 8000 Fußballfeldern, auch hier südlich von Potsdam. In den vergangenen Tagen sind die Flugzeuge um Tempels Wald herum täglich geflogen, haben giftigen Nebel versprüht, um die Nonne zu töten. Die Nonne, ein Nachtfalter, legt ihre Eier gern auf die Kiefern, dann schlüpfen Raupen, die die Bäume kahl fressen. Dort, wo es viele Kiefern gibt, vermehrt sie sich besonders gut. Also bleibt, so sagt es die Landesregierung wie der Verband der Waldbesitzer, nur Karate Forst flüssig.

Das Gift tötet aber nicht bloß den Falter, sondern auch Käfer, Bienen und viele andere Insekten. Also hungern die Vögel. Es hungern die Fledermäuse. Und die Menschen dürfen dort, wo gespritzt wurde, wochenlang nicht mehr in den Wald. Sie könnten sich sonst ebenfalls vergiften.

Tempels Wald kann man betreten. Noch. Rund 100 Spaziergänger sind an diesem Sonntag gekommen, Familien, Rentner, Jugendliche. Der grüne Abgeordnete Toni Hofreiter hat sie zu einem gemeinsamen Ausflug eingeladen, zu einer Art Demo im Wald. Mit der will er dem verzweifelten Waldbesitzer beistehen. Denn Tempel hatte um Hilfe gebeten, auf seiner Internetseite, mit einer Online-Petition und in zunehmend flehendem Ton. „Ich befürchte, dass die lebende Waldgemeinschaft, die ich über Jahre aufgebaut habe, zerstört wird“, hatte er dort geschrieben und dass er keine Flugzeuge mit Gift über seinem Wald wolle. Er hoffe auf den Widerstand der Bürger. Trotzdem rücken die Flugzeuge jeden Tag näher. 3000 Hektar Wald haben sie schon besprüht.

Die Brandenburger Regierung hält die Proteste der Umweltschützer für das eigentliche Problem. Der sozialdemokratische Umweltminister warnt vor einer „ökologischen Katastrophe“ – wenn das Gift nicht auch in Tempels Wald gespritzt werde. Viele Bäume würden dann von den Schädlingen gefressen.

Tempel hält das für eine völlige Verdrehung der Realität. Er sagt, eine ökologische Katastrophe sei es doch in Zeiten des Artensterbens, wenn großflächig Gift verspritzt werde. Und unnötig teuer sei es außerdem.

Tiere will er schützen und Pflanzen

Tatsächlich soll Tempel für den Gifteinsatz, den er nicht will, auch noch bezahlen: 85 Euro pro Hektar, 6800 Euro insgesamt. Und für den Fall, dass er ihn gar nicht erlaube, droht ihm die Forstbehörde schon mal vorsorglich mit Schadenersatzansprüchen: Würden Nonnen bei ihm überleben, rüberfliegen in eine Plantage und deren Nachkommen sich wiederum dort satt fressen – dann müsste Tempel dafür aufkommen.

„Natürlich gibt es in meinem Wald auch Nonnen“, sagt er, aber das sei doch nicht schlimm. „Da fressen die roten Waldameisen deren Eier. Und wenn doch ein paar Bäume kahl werden, was macht das schon. Die meisten berappeln sich wieder.“ Außerdem gebe es ja auch noch andere Baumarten.

20 Jahre hat Tempel gebraucht, um aus der Kiefernmonokultur, die er einst kaufte, einen Wald zu machen, in dem viele Pflanzen und Tiere leben. 20 Jahre und viel Geduld. „Am Anfang habe ich Birken im Gartenzentrum gekauft und sie zwischen die Kiefern gepflanzt. Die sind mir natürlich eingegangen“, erzählt er. Dann habe ihm ein Förster geholfen, die passenden Sorten für den oft trockenen, sandigen Boden zu finden. Er habe Ameisen angesiedelt und mit unterschiedlichen Nistkästen experimentiert – eine Art Übergangswohnung für die Meisen, bis die Bäume alt genug sind und in ihren Asthöhlen Unterschlupf bieten. Heute sei sein Wald viel robuster als jede Plantage. Kein Schädling kann wirklich Schaden anrichten, weil er natürliche Feinde hat. Tempels Bäume trotzen den immer trockeneren Sommern, in Mischwäldern schaffen sie das besser als in Monokulturen. Und es brummt, blüht und piepst. „Bei mir hat schon mal ein Imker seine Bienenstöcke zur Kur in den Wald gestellt“, sagt Tempel.

Tiere will er schützen und Pflanzen. Und er will beweisen, dass man Waldwirtschaft sehr gut ohne Chemie betreiben kann. Das bringt zwar nicht so schnelles Geld, sei aber für alle besser, auch langfristig. „Ich habe einen vierjährigen Enkel“, sagt er ganz am Ende des Rundgangs. Der wolle so gern mit ihm in den Wald. „Dem kann ich doch nicht sagen, dass das nicht geht, weil alles vergiftet ist.“

Diese Eindrücke sammelte unsere Autorin im Mai 2019 in Brandenburg, sie sollten den Kern ihrer Geschichte über den protestierenden Naturschützer Karl Tempel und seinen Wald bilden. Doch dann geschah etwas, was bei Recherchen öfter mal vorkommt: Die Sache nahm eine andere Wendung.

Gegen das Vorhaben, Tempels Wald mit dem Insektengift zu bespritzen, hatte der Naturschutzbund (Nabu) schon einige Zeit vor Tempels Demo Klage eingereicht. Er warf den Behörden vor, dass sie nicht genug Rücksicht auf schützenswerte Arten nähmen. Noch vor Redaktionsschluss stimmte das Verwaltungsgericht Potsdam dieser Ansicht zu. Es verbot die Behandlung des Waldes. Karl Tempel hatte gesiegt, zumindest vorläufig. Die Redaktion entschied, die Entwicklung weiter zu verfolgen, den Artikel zum damaligen Zeitpunkt aber nicht zu drucken.

Seit dem Herbst hat Brandenburg eine neue Landesregierung mit einem grünen Umweltminister. Ob sich die Geschichte wiederholt, ob die Forstbehörden im kommenden Jahr wieder großflächig Gift spritzen wollen, der Nabu wieder dagegen klagen und wieder gewinnen wird, ist derzeit unklar. Sicher aber ist: Die Prognose, dass die Wälder ohne Pestizideinsatz weitgehend kahl gefressen würden, erwies sich im Laufe des Jahres als falsch. Tempels Wald geht es gut. Und der Förster durfte seinen Enkel doch noch mit in den Wald nehmen.

https://www.zeit.de/2019/50/naturschutz-wald-brandenburg-insektengift-forstwirtschaft